14. Von Räubern und Wegelagerern

Von Räubern und Raupen am Wegesrand


Eine windige Fahrradtour durch das Spiegeltal im Harz


Bei windigem Wetter in der freien Natur Makro-Aufnahmen machen, an Büschen und anderen Pflanzen, womöglich noch im Stacking-Verfahren - geht das überhaupt?


September - und keine Flaute der Insektenfotografie


In der ersten Septemberhälfte ist der Höhepunkt der Blütenfülle des Sommers längst vorbei, und auch Insekten zeigen sich weniger häufig. Nun heißt es für den Naturfotografen: noch genauer hinsehen.



Die Larve einer Blattwespe beim Fraß an einem Blatt. Trotz der Bewegung kann bei sehr schneller Aufnahmefolge ein Bilderstapel entstehen, der eine Verarbeitung in einem Stacking-Programm zulässt. - Olympus E-M1MarkIII, M.60mm F2.8 Macro, ISO 200, f5, 1/20 sec, Bildergebnis aus 54 Ursprungsbildern

Ein recht enges, bewaldetes Tal auf einem schmalen Weg mit dem Fahrrad zu durchstreifen, das verspricht eine eher begrenzte Fotoausbeute, wenn man Naturfotografie als Landschaftsfotografie versteht oder auf große Wildtiere zu treffen hofft. Das gilt auch im Spiegeltal, zumal der Wasserlauf nur an wenigen Stellen zugänglich ist und häufig nicht einmal gesehen werden kann, solange Bäume und Buschwerk noch Blätter tragen, denn der Weg führt in der Regel am Hang etwas oberhalb des Wasserlaufs entlang.

Noch schwieriger wird es durch die Art der Fortbewegung.


Schnell sein sollte die Kamera. 
Der Fotograf bewegt sich besser langsam.

 

Natur- und Makrofotografen wissen es: Jedes Fahrzeug, auch das nur von Muskelkraft bewegte, erschwert das Wahrnehmen  der Umwelt. Denn nur genaues, ruhiges, suchendes Hinsehen bringt jene Motive vor Augen, die ungewöhnlich sein können. Stehen bleiben, sich bücken, mit einem Handspiegel die Unterseite der Blätter prüfen - darauf kommt es an.

So beginnt unsere Fahrradtour wie bei vielen Naturfotografen mit der Ungewissheit, wie weit sie führen wird. Denn das wird von der Anzahl der Halte abhängen, die wir einlegen, und davon, wieviel dabei zu entdecken ist.

Vom hoch gelegenen Campingplatz am Rand von Zellerfeld führt der Weg nach einem kurzen Anstieg in Windungen hinunter ins Tal. Zunächst verzichten wir bewusst auf jedes Anhalten. Erst im Talgrund ist ein Halt vorgesehen. Es ist eine alte Erfahrung: Motive finden sich stets, und wenn man zu früh Ausschau hält, gelangt man nicht einmal zu dem Streckenabschnitt, von dem man sich die größte fotografische Ausbeute versprochen hat.


Im September ist der Höhepunkt des lebhaften Insektentreibens bereits längst vorüber.
Bei unserer Tour bricht die Sonne manchmal durch die Wolken, Wind streicht durch das Tal, das sich in Ost-West-Richtung zwischen Zellerfeld und Wildemann erstreckt. Die Zweige bewegen sich. Der Wind wird Makro-Aufnahmen erschweren, denn die sollen in der Regel im Stacking-Verfahren erfolgen. Das bedeutet: Möglichst schnell hintereinander werden viele Bilder mit jeweils geringfügig verlagerter Schärfenebene aufgenommen, da die Schärfentiefe eines einzelnen Fotos zu gering wäre, um etwa ein kleines Insekt im Ganzen und doch detailliert zu zeigen.


Quirliges Treiben auf den Blüten von Goldruten. Vor allem Rundstirnmotten tummeln sich zahlreich. - Panasonic Lumix G9, Olympus 40-150mm f/2.8, mit Konverter MC-14 (effektiv 56.0-210.0 mm f/4.0) bei 210mm, ISO 200, f5, 1/50 sec, Bildergebnis aus 7 Ursprungsbildern


Als wir an der Brücke über den Spiegelbach zum ersten Mal vom Rad absteigen, müssen wir erkennen, dass sich dieses Aufnahmeverfahren zunächst aus einem anderen Grund kaum einsetzen lässt.


Quirliges Treiben auf den Blüten


Hier erwartet uns ein quirlig-lebhaftes Treiben auf dem Wasserdost und den Goldruten, die das Bachufer säumen: eine Unzahl winziger Falter in rastloser Bewegung. Wir können der Versuchung nicht widerstehen, dennoch einige Aufnahmen im Stacking-Verfahren zu versuchen, wohl wissend, dass die Ergebnisse vielleicht nicht befriedigen werden. Wer aber einmal auf diese Weise zu arbeiten begonnen hat, stellt immer höhere Ansprüche: Man möchte über die Schärfentiefe selbst bestimmen und sie nicht mehr äußeren Bedingungen überlassen. Ebenso wenig möchte man die Beugungsunschärfe in Kauf nehmen, die bei zu starkem Abblenden entsteht.

Und dann kann die eine oder andere Aufnahme aus der Serie noch eine – buchstäblich - kleine Überraschung bereithalten, indem ein winziges, zunächst kaum wahrnehmbares Insekt neben dem bereits kleinen Falter sichtbar wird.


Ein wenige Millimeter messendes Insekt und eine Rundstirnmotte. Diese Motten erreichen eine Flügelspannweite von 7-16mm. - Gelegentlich gelingen Stacking-Aufnahmen auch unter schwierigen Bedingungen, und mit etwas Glück können zwei Insekten zufriedenstellend abgebildet werden. Panasonic Lumix G9, Olympus 40-150mm f/2.8, mit Konverter MC-14 (effektiv 56.0-210.0 mm f/4.0) bei 210mm, ISO 200, f4, 1/640 sec, Bildergebnis aus 4 Ursprungsbildern


Mit dem Rad geht es wieder eine Strecke talabwärts. Einzelne Blüten am Wegrand veranlassen uns nicht zu einem Stopp, zunächst ist das Vorankommen wichtiger. Nach etwa 2 km nimmt die Hangneigung auf beiden Seiten etwas ab, und der Bewuchs am Wegesrand wird dadurch dichter, buschiger. Das kann einen Stopp lohnen.

 

Ungewöhnliche Motive verlangen geduldiges Suchen


Absteigen, das Fahrrad abstellen, entlang des Weges vor und hinter dem Haltepunkt die Vegetation in sehr langsamem Schritt mit häufigem Hinhocken genau mustern, die Zweige, die Blätter absuchen. Ja, es war richtig vermutet. Die Funde lassen nicht lange auf sich warten. Kameratasche und Stativ werden vom Fahrrad geholt.

Zunächst ziehen Raupen oder Larven die Aufmerksamkeit auf sich. Manchmal kann man sie zusammengerollt auf einem Blatt finden, manchmal lassen sie sich beim Fressen beobachten - und auch fotografieren.


Diese Larve legt eine Pause ein. Die Folgen ihrer Tätigkeit sind unübersehbar und haben den Fotografen beim musternden Blick auf die Büsche im langsamen Gehen schnell auf ihre Spur geführt. - Olympus E-M1MarkIII, M.60mm F2.8 Macro, ISO 200, f4, 1/40 sec, Bildergebnis aus 30 Ursprungsbildern


Larven und Raupen werden selbst häufig gefressen. Geläufig ist das Bild, das einen Vogel mit einer Raupe im Schnabel zeigt. Aber sie können auch Opfer anderer Tiere werden. Manche Wespenarten injizieren durch einen Stich Eier in den Raupen- oder Larvenkörper, um so parasitisch ihre Brut heranreifen zu lassen. Nur mit viel Glück lässt sich solch ein Moment beobachten, und noch viel mehr Glück gehört dazu, dies fotografisch festhalten zu können.

Bei länger andauernden Vorgängen ist es für den Fotografen einfacher. Nach gründlichem Absuchen der Zweige und Blätter eines Busches hat der Fotograf dann bessere Erfolgsaussichten.
Dieses Mal sind es Wanzen, die bei erstaunlichem Tun überrascht werden. Was sich alles gleichzeitig abspielen kann!


Raubwanzen, von denen eine die Raupe (vermutlich einer Bandeule) aussaugt. Eine solche Situation ist ein besonderer Moment für den Insekten-Fotografen. Mehrere Aufnahmefolgen waren nötig, um einen Stapel zu erhalten, der eine Verrechnung der Bilder im Stacking-Programm erlaubte. Die Bewegung der Raubwanzen und vor allem der Wind machten viele Aufnahmeserien unbrauchbar. - Olympus E-M1MarkIII , M.60mm F2.8 Macro, ISO 200, f5, 1/40 sec, Bildergebnis aus 29 Ursprungsbildern


Wegelagerer


An nahe gelegenem Buschwerk führt das Mustern der Blattunterseiten zum Erfolg. Eine Spinne nutzt die Deckung eines Blattes, sich ihrer Beute ungestört und ungefährdet zu widmen.


Die Spinne, die noch mit Resten eines erbeuteten Insektes beschäftigt ist, verhielt sich zwar verhältnismäßig ruhig. Dennoch waren auch in diesem Fall mehrere Aufnahmefolgen erforderlich, um ein brauchbares Resultat zu erhalten. Der Wind und plötzlich wechselnde Lichtverhältnisse führten zu einigen Aufnahmestapeln, die bei der späteren Sichtung verworfen werden mussten. - Olympus E-M1MarkIII, M.60mm F2.8 Macro, ISO 200, f5, 1/125 sec, Bildergebnis aus 8 Ursprungsbildern


Auf der trockenen Ähre eines Grases, in den Weg hängend, hat sich ein Wegelagerer lauernd niedergelassen: eine Raubfliege. Bei vorsichtiger, langsamer Annäherung mit der Kamera bleibt sie zunächst sitzen, fliegt dann aber doch auf. Die Erfahrung lehrt, dass dies nicht gleich ein Scheitern des fotografischen Vorhabens bedeuten muss. Tatsächlich kehrt sie nach wenigen Augenblicken zurück und bezieht wieder ihren Posten. Es war also richtig, die Kamera auf dem Stativ behutsam näher zu rücken und kurz abzuwarten. Nun muss aber noch einmal abgewartet werden – bis endlich der Wind ebenso mitspielt wie die Fliege und einige Sekunden lang ruhig bleibt. Der Stacking-Durchgang kann an der Kamera gestartet werden.


Raubfliege auf einem wiederholt aufgesuchten Ansitzplatz nahe der Spitze einer Ähre. - Olympus E-M1MarkIII, M.60mm F2.8 Macro, ISO 200, f4, 1/50 sec, Bildergebnis aus 15 Ursprungsbildern

Friedlicher scheint es einige Dutzend Meter weiter auf den Blüten der Goldruten zuzugehen. Neben den schon vielfach gesehenen Faltern tummeln sich dort einige Fliegen.


 
Die Fliege im Hintergrund lässt erkennen, wie klein die Rundstirnmotten sind, die zu den tagaktiven Nachtfaltern zählen. - Panasonic Lumix G9, Olympus 40-150mm f/2.8, mit Konverter MC-14 (effektiv 56.0-210.0 mm f/4.0) bei 210mm, ISO 200, f4, 1/500 sec

Dick, geradezu fettleibig wirkt die Fliege. Wiederum hat sich ein winziges Insekt in der Nähe niedergelassen, das den Körper der Fliege um so massiger erscheinen lässt. Zum Glück verhalten sich diese Fliegen nicht so ruhelos wie die kleinen Falter, so dass ein Stacking-Durchgang mit einigen Aufnahmen gelingen kann – wenn die Kamera schnell genug ist und dafür nur einen Sekundenbruchteil benötigt.



Ein noch bedeutenderer Unterschied in Größe und Gestalt. - Panasonic Lumix G9, Olympus 40-150mm f/2.8, mit Konverter MC-14 (effektiv 56.0-210.0 mm f/4.0) bei 210mm, ISO 200, f5, 1/250 sec


Der nächste Halt wird eingelegt, als zwei oder drei Kilometer weiter eine ähnliche Verbreiterung des Weges den gleichen Bewuchs aufweist. Die Suche nach Räubern und ihren Opfern am Wegesrand bleibt auch hier nicht erfolglos. Auf einer Blattoberseite ist zu sehen, was von einem Insekt übrigbleibt, das gerade ausgesaugt wird. Der Vorgang geht so langsam vonstatten, dass mehrere Aufnahmeserien keine Probleme bereiten – wenn gerade der Wind mitspielt und eine kleine Ruhepause einlegt.

Diese Raubwanze hat gerade ein Insekt ausgesaugt. - Olympus E-M1MarkIII , M.60mm F2.8 Macro, ISO 200, f5, 1/20 sec, Bildergebnis aus 43 Ursprungsbildern


Die Vegetarier vertilgen ihre Nahrung in lebhafterer Bewegung, und es ist nicht einfach, eine Aufnahmefolge anzusetzen. Auch hier ist nicht zu übersehen, welche Folgen das Fressen für das pflanzliche Opfer hat.


Diese Blattwespenlarve frisst Löcher in ein Blatt – anders als manche Schmetterlingsraupen, die ein Blatt linear, gewissermaßen in Zeilen, vom äußeren Blattrand nach innen hin vertilgen.  - Olympus E-M1MarkIII, M.60mm F2.8 Macro, ISO 200, f5, 1/50 sec, Bildergebnis aus 23 Ursprungsbildern


Feine Strukturen auch bei "unappetitlichen" Tieren


Eine andere Larve rundet das Bild ab – der Kreis schließt sich zur Beobachtung der ersten heute gefunden Larve. Eingerollt liegt sie halb auf einem Blattrand, halb auf einem Stängel.



Larve einer Rosenblattwespe - ihre Liegeposition. - Olympus E-M1MarkIII, M.60mm F2.8 Macro, ISO 200, f4, 1/13 sec,  Bildergebnis aus 13 Ursprungsbildern

Das genaue Hinsehen offenbart die feine, zart wirkende Gliederung.  
Auch bei Tieren, die nicht den gängigen Vorstellungen der Menschen von Schönheit und Anziehungskraft entsprechen, lassen sich nicht selten unerwartet reizvolle Strukturen entdecken – wenn man nur bereit ist, mehr als einen flüchtigen Blick darauf zu werfen. 

Ausschnitt aus dem vorigen Bild. Die Makrofotografie hilft dabei, unauffällige Schönheit festzuhalten, zu demonstrieren und zu dokumentieren. Mit dem Stacking-Verfahren wird es vielfach erst möglich, sehr feine Strukturen zur Geltung zu bringen

Der Wind nimmt zu, die Zeit ist fortgeschritten, die Rückfahrt mit dem Rad muss angetreten werden, nun bergauf. Eine Lichtung verhilft zu einer Verschnaufpause. Ein Falter, ein Admiral, verführt zum letzten Mal an diesem Tag dazu, die Kamera in die Hand nehmen. Stacking-Aufnahmefolgen sind nicht mehr möglich, der Wind und die kaum einmal unterbrochene Bewegung des Schmetterlings erlauben es nicht.

Admiral im Licht der Abendsonne. Panasonic Lumix G9, Olympus 40-150mm f/2.8, mit Konverter MC-14 (effektiv 56.0-210.0 mm f/4.0) bei 210mm, ISO 400, f8, 1/125 sec

Eine weite Fahrradtour ist es nicht geworden. Dafür ein durchaus ergiebiger Fotoausflug, obgleich die Bedingungen beim Start keineswegs optimal erschienen. 
 

"Von Räubern und Raupen am Wegesrand" ist in einer modifizerten Fassung im Heft 8/2022 des Magazins NaturFoto (Tecklenborg Verlag) erschienen.


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