Fokus, Schärfe - und Sehgewohnheiten

Fokus, Schärfe, Sehgewohnheiten

Vorab zunächst ein Blick auf die jüngeren Entwicklungen bei anspruchsvollen Kameras und Objektiven.


Ein Trend auf dem Markt für Objektive: Es werden neben Zoom-Optiken auch verstärkt lichtstarke Festbrennweiten entwickelt, für Autofokus, auch für manuelle Fokussierung. Wenn Beispiele für die Leistung dieser Optiken gezeigt werden, dann wird in erster Linie, verständlicherweise, das Freistellungspotential herausgestellt - und das Bokeh, natürlich.

Je höher die Lichtstärke, desto geringere Schärfentiefe wird erzielt (wenn mit offener Blende fotografiert wird, versteht sich) – häufig sollen dies Beispielbilder zeigen, die aber werden wiederum in der Regel nur in sehr geringer Auflösung geliefert. Das steht im Widerspruch dazu, dass die Sensoren der Kameras immer höhere Auflösungen erreichen können. Die optische Leistung vieler moderner Objektive ist dem angepasst und kann bereits bei Offenblende erstaunliche Ergebnisse erbringen.

Angesichts der hohen Pixelzahl der Sensoren und der Leistungsfähigkeit der Objektive bei Offenblende kann der Zerstreuungskreis – früher wurden für KB in der Regel 0,03mm vorausgesetzt – kleiner angesetzt werden. „Scharf“ abgebildet wird – wenn der Abbildungsmaßstab nicht zu klein wird, also z.B. bei üblichen Porträt-Aufnahmen – nur ein äußerst schmaler Bereich bei dreidimensionalen Objekten, wie eben einem Kopf – da sind manchmal nicht einmal beide Augen erfasst. Immer vorausgesetzt, dass die Lesitungsfähigkeit des Sensors und des Objektiv ausgeschöpft, also entsprechend hohe Maßstäbe angelegt werden.

Ist das wirklich die optimale Darstellung, oder nur eine überkommene Sehgewohnheit, die aus der Begrenztheit der früheren technischen Möglichkeiten resultierte – und nie in Frage gestellt worden ist?

Die heutigen Möglichkeiten, die sich mit der hochentwickelten „Hardware“ (Sensor, Objektive) und der ebenfalls in Entwicklung befindlichen „Software“ eröffnen, lassen neu über die Rolle der Schärfeverteilung in einem fotografischen Bild nachdenken.

Mit „Software“ nehme ich Bezug auf die Möglichkeiten der digitalen Bearbeitung, Bilder mit verschiedenen Schärfeebenen zu kombinieren – so, dass genau das gewünschte Ergebnis entsteht, dass also eine gestalterische Absicht umgesetzt werden kann. Das kann bei einem „Porträt“ eines Menschen, einer Person oder eines Tieres etwa darin bestehen, dass das Gesicht, und nicht nur eine minimal durch ein Auge gelegte Ebene scharf abgebildet wird. Bei einer Natur- oder Landschaftsaufnahme kann genau der gewünschte räumliche Tiefenbereich scharf abgebildet werden – und deutlich von anderen abgebildeten Teilen abgehoben werden, die entweder weniger bildwichtig sind und darum nicht ablenken sollen oder aber gezielt aus bildgestalterischen Gründen schemenhaft erscheinen sollen.

Bei der Nah- und Makrofotografie mit gehobenen Ansprüchen an die Bildgestaltung und die Darstellung des Gegenstands sowie an die Präsentation führt ohnehin kein Weg an den Verfahren vorbei, die als „Fokus Stacking“ bezeichnet werden: Die Komposition mehrerer Aufnahmen mithilfe einer Software. Dies hat anfänglich selbst bei Fotografierenden mit vertieften Kenntnissen und Ansprüchen zu der verfestigten Vorstellung geführt, solche Verfahren seien überhaupt nur für die Makrofotografie da, und es gehe jeweils darum, im Bild „alles“ scharf abzubilden. Beides ist falsch.


Zur Kombination der Einzelaufnahmen in der Bildnachbearbeitung kann eine verbreitete Anwendung wie Photoshop (Elements) verwendet werden oder eine spezielle Software für diesen Zweck. Hilfreich ist es, wenn die „Hardware“ entsprechend vorbereitet ist, die Kamera also bereits beim Aufnahmevorgang mehrere Aufnahmen mit jeweils leicht verlagerter Fokusebene machen kann, wenn ein Autofokus-Objektiv verwendt wird. Es gibt sogar Kameramodelle (von Olympus), die unmittelbar nach der Aufnahme mehrere derart aufgenommene Bilder schon kameraintern zu einem Bild verrechnen können, das die Schärfeebenen der Einzelbilder kombiniert.

Fast alle der in den letzten Jahren auf den Markt gekommenen Kameramodelle gehobenen Anspruchs bieten die Möglichkeit, eine Fotoreihe mit kontinuierlich und gleichmäßig sich verlagernder Schärfenebene zu machen. Allerdings ist es sehr unterschiedlich, wie gut diese Möglichkeit implementiert ist. Nur ein Hersteller fällt negativ aus dem Rahmen – mit seinen Produkten ist eine solche gestalterische Fotografie nicht vorgesehen. Auch dazu später mehr.


Für diejenigen, die etwas tiefer in die Materie eintauchen möchten, noch einige weitere Hinweise auf Anwendungsgebiete der Kombination von Fotos mit verlagerter Schärfeebene. Zum Beispiel kann es nicht nur aus gestalterischen Gründen sinnvoll oder erforderlich sein, im Stacking-Verfahren zu fotografieren, sondern auch aus technischen Gründen. Objektive haben – von speziellen Konstruktionen wie Repro- oder Makroobjektiven einmal abgesehen – in der Regel keine perfekt zweidimensionale Schärfen-„Ebene“. Der scharfgestellte Bereich ist der Regel mehr oder weniger leicht gekrümmt. Das ist angesichts der komplexen Korrektur der Objektive schwer vermeidbar, ganz besonders ausgeprägt tritt es bei Zoomobjektiven in Erscheinung.

Stellen wir uns vor, ein Verein möchte seine Mitglieder in einem Gruppenfoto festgehalten haben, ohne Bevorzugung oder - buchstäblich! - Zurückstellung einzelner Personen. Die Mitglieder stellen sich daher strikt nebeneinander auf derselben Stufe eine breiten Aufgangstreppe vor einem repräsentativen Gebäude auf. Das Foto soll großformatig auf einer Wand im Vereinsraum erscheinen, es muss also hohe Ansprüche an die Bildschärfe erfüllen. Der Blick soll aber nicht zu sehr von den detailreichen Ornamenten des prächtigen Bauwerks abgelenkt werden. Der Fotograf öffnet daher die Blende weit, um die Schärfentiefe zu begrenzen – und muss später bei der Überprüfung des Bildes feststellen, dass die am Rand stehenden Personen deutlich weniger scharf abgebildet sind als die in der Mitte, auf die er (oder der Autofokus der Kamera) scharfgestellt hat. Naheliegend mag die Vermutung sein, dass das verwendete Objektiv am Rand eine schlechtere Leistung hat als in der Bildmitte. Das wird auch in der Regel zutreffen – aber kann es dieses Ausmaß der unterschiedlichen Schärfe erklären? Bei sehr genauer Betrachtung wird er vielleicht feststellen, dass es an den beiden Bildrändern durchaus scharf abgebildete Zonen gibt – die leeren Stufen der Treppe unterhalb der Personenreihe. Ursache ist die Krümmung der Schärfenebene.

Roger Ciala hat einen ausführlichen Artikel zu solchen Beobachtungen verfasst, Erfahrungswerte veröffentlicht und in diesem Zusammenhang auch zu Recht auf die Fragwürdigkeit der meisten „Testberichte“ über Objektive hingewiesen, in denen dieser Umstand in der Regel nicht berücksichtigt wird und die deshalb wenig aussagekräftig sind (dpreview). - Dieser Effekt würde vermieden werden können, wenn eine Reihe von einigen wenigen Aufnahmen mit geringfügig veränderter Schärfenebene erstellt und die scharfen Bereiche miteinander kombiniert werden können. Dann braucht der erfahrene Fotograf nicht, vermeintlich notgedrungen, sein Objektiv stärker abzublenden - und dadurch den Hintergrund doch weniger verschwimmen zu lassen, als er oder seine Auftraggeber es möchten.
Dieses Fallbeispiel lässt aber auch eine andere Voraussetzung deutlich werden, an die ein solches Verfahren geknüpft ist und die durch den Stand der technischen Entwicklung inzwischen vielfach gegeben ist: Die Kamera muss in der Lage sein, mehrere Aufnahmen extrem schnell hintereinander zu machen. Im Falle der Fotografie von Menschen oder Tieren von der Größe einer Katze an aufwärts sind in der Regel nur sehr wenige Aufnahmen erforderlich; bei der Personengruppe dürften 2 oder höchstens 3 genügen. Sonst wären Bewegungen, sei es der Personen oder Tiere, sei es anderer Bildbestandteile durch Wind – problematisch. Gute spezielle Anwendungsprogramme für das Fokus-Stacking können zwar inzwischen bereits in erstaunlichem Ausmaß z.B. Verschiebungen durch Windbewegungen ausgleichen, dennoch stößt man schnell an Grenzen. Nichts ist hilfreicher und wichtiger als die äußerst schnelle Bildfolge mit jeweils verlagerter Fokusebene.
"Hilfreich" bedeutet nicht allein eine Erleichterung für das Arbeiten. Aber etliche Aufnahmesituationen können überhaupt nur bewältigt werden, wenn eine Kamera dieses Verfahren ermöglicht. Ein Kameramodell, das mit Superlativen an Sensorauflösung und Geschwindigkeit Schlagzeilen macht, aber das Verfahren der Fokusverlagerung dabei nicht beherrscht, wird daher weniger gute Bildergebnisse bringen können oder gar in der Situation ganz versagen.


Dieser Text wird in Kürze überarbeitet, ergänzt, vertieft und mit Bildbeispielen versehen werden.




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